8.11.2007: Jaco und Nina

So mit 16 las ich in einem Musik-Magazin, das mir Freunde in mein Dorf importiert hatten etwas über Jaco Pastorius, einen Jazz-Bassisten, der wohl manisch-depressiv war. Jazz war damals eine fremde neue Welt, Bassist war ich auch, „manisch“ sagte mir nichts und es gab noch kein Internet zum Nachschauen. Aber das alles klang viel aufregender als die ewig gleichen Geschichten von zerstörten Hotelzimmern, Groupies und Drogen, die der Rock’n’Roll so lieferte.

Und auch „depressiv“ klang spannend. Es klang so als gäbe es einen Namen für meine Traurigkeit, für mein Verzweifeln an der Welt, über das ich mit niemandem reden konnte. So, als wäre ich nicht alleine.

Und nicht nur das, es kam sogar noch besser: Es war nicht nur ein Wort, nicht nur ein Name, es hatte auch noch den größten Bassisten der damaligen Zeit kreativ beflügelt. So las es sich.

Ich beschloss: Ich wollte auch manisch-depressiv werden.

In meinem Kopf verwirbelte Depression mit Weltschmerz, mit Hesse und „Still got the Blues“. Verschwurbelte mit des jungen Werthers Leiden und mit der Erinnerung an jeden einsamem Abend auf dem Dorf, an denen mich wieder niemand zur Jahrgangsparty gefahren hatte.

Ich hörte jedes traurige Lied, das jemals veröffentlicht wurde, ich sog aus jedem Text den Schmerz der ganzen Welt und ich wusste zum ersten mal seit Jahren, dass das alles einen Sinn machen würde: Ich würde ein wahrer, echter Künstler werden. Tiefgründig und bewundert.

Jahre später lernte ich Nina kennen. Nina war ein eher muffiger Typ, ruppig, aber nicht ohne eine gewisse Herzlichkeit. Ich mochte sie irgendwie.

Nina verschwand alle paar Monate für ein paar Wochen. Niemand der anderen, die sie alle schon länger kannten sprach darüber und auch wenn sie dann eines abends wieder in der Kneipe stand fragte niemand. Ich also erstmal auch nicht.

Hinter vorgehaltener Hand erzählte mir dann jemand, sie sei „wieder in der Klinik“. Hinter vorgehaltenen Händen sprechen war noch nie mein Ding und ich fragte sie, als sich die Gelegenheit ergab.

Seitdem hatten wir so etwas wie einen besonderen Draht. Wenn sie mich wieder einmal anpflaumte, schob sie ein „Weisst doch wie ich bin“ hinterher, knuffte mir einen Moment später die Schulter und murmelte „bin schlecht eingestellt“.

Und wenn es ihr auf einmal wieder auffallend gut ging, wenn sie auf einmal Pläne zur Übernahme der Weltherrschaft in die Kneipe posaunte, dann konnte ich damit umgehen. Dann wusste ich, sie würde wohl bald wieder ein paar Wochen weg sein.

Jetzt ist sie schon 10 Jahre mehr als nur ein paar Wochen weg. Als sie merkte, dass sie den Kampf nicht mehr gewinnen konnte, fuhr sie zur lange vorher ausgewählten Brücke und hörte einfach auf zu kämpfen.

Es gibt kaum einen Tag, den ich mich seitdem nicht für meinen jugendlichen Wunsch geschämt habe.

Dieser Artikel wurde zuerst am 8.11.2007 veröffentlicht bei mindestenshaltbar, einem lange eingestellten Online-Magazin und dann noch einmal 5.4.2014 im jawl, meinem alten Blog. Das jawl ist aber inzwischen auch geschlossen – aber diesen Artikel wollte ich gern behalten und habe ihn deswegen in ein Archiv alter Artikel aufgenommen.

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