20.1.2017: ein richtig guter Mensch

Die G.
Ich möchte Euch jemanden vorstellen: Das ist die G.
G. ist in einem Vorort aufgewachsen, aber es gibt G.s bestimmt in jedem Ort, ob online oder offline, egal wie groß oder klein.
G. kommt aus einem sogenannten ziemlich guten Elternhaus, vor allem ihr Vater hat immer sehr gut auf sie geachtet. Als Nachkriegspatriarch alter Schule sagte er ihr, wie‘s geht und wie nicht und im Zweifel auch mal, was man worüber dachte. Vielleicht sogar ein bisschen viel, denn als sie erwachsen wurde, war G. arg unselbstständig und naiv und viele nutzten das fröhlich aus. Und beinahe alle amüsierten sich königlich über das kleine Purzelchen.

G. findet neue Freunde
Aber G. fand zum Glück neue Freunde, als sie zum Studieren loszog. Gute Freunde, gute Menschen. Die waren aufmerksam für ihre Mitmenschen, die lachten andere nicht aus. Die waren selbstbewusst und tolerant, die machten keine Unterschiede zwischen Frau und Mann, die waren auch mal offen für Alternatives und die engagierten sich für Minderheiten – und G. lernte das alles mit großen Augen kennen. Ihre neuen Freunde lachten auch nicht über sie, sie rieten G. vielmehr, auch mal ihre eigene Meinung zu finden und zu vertreten.

Es war erst schmerzhaft, all das zu sehen, aber sie merkte nach und nach, wie sehr ihr Vater und auch alte Bekannte immer ausgenutzt hatten, dass sie so brav war. Sie lernte auch, wie sexistisch vieles von dem war, was sie erlebt hatte und begriff, dass ihr Vater wohl das beste Beispiel für Mansplaining war, das man hätte finden können. Es war nicht nur schön, das alles zu durchschauen.
Sie überlegte, wie sie mehr Selbstbewusstsein erlangen könnte; sie begriff, wie andere sie ausnutzten und über sie lachten.

Und eines Tages beschloss sie: Heute ist der Nullpunkt und ich achte ab jetzt jeden Tag ein wenig mehr auf mich und weniger auf andere, denn ich will mich nicht immer so leicht beeinflussen lassen.

Außerdem – ich muss es kurz erwähnen – nahm sie von ihren neuen Freunden auch Kleidungs- und Frisur-Stil an, richtete ihr WG-Zimmer neu ein und warf ihr Studium über den Haufen um Diplompädagogin zu werden – auch wenn es ihrem Vater so gar nicht gefiel. Und so unwichtig Kleidung und Frisur und auch so ein Job eigentlich sind, die werden noch wichtig.

Ein paar Jahre später
Schon wenige Jahre später war G. auf den ersten Blick nicht von ihren neuen Freunden zu unterscheiden. Nur wenn man mehr mit ihr zu tun hatte merkte man: Sie war ihrem Vorsatz treu geblieben und achtete jeden Tag etwas mehr auf sich. Und etwas weniger auf andere.
Wer etwas bewandert in Mathe oder Logik ist kann jetzt messerscharf schließen: Wer seit Jahren jeden Tag etwas – sagen wir ein viertel Prozent, das ist ja wirklich nicht viel – egoistischer wird, der denkt nach Eins-Komma-Eins Jahren zu einhundert Prozent nur noch an sich selbst. Und so geschah es auch.

G. war weder in Mathe noch in Logik besonders gut. Und so hatte sie übersehen, dass ihr Vorsatz nur so lange ein guter gewesen war, so lange er sich auf ihren damaligen Nullpunkt bezog. Dass sie sich inzwischen schon ein gutes Stück weiter entwickelt hatte, das übersah sie und so sagte mancher, sie sei inzwischen ein ziemlich egoistisches Miststück, das außerhalb ihres kleinen Kosmos nichts anderes gelten lasse als sich selbst. Und eigentlich würde sie sogar jeden Tag schlimmer. Naja, logisch, das war ja auch irgendwie genau ihr Plan gewesen.

Etwas problematisch, auch für ihre eigentlich diskussionsgewandten Freunde, war, dass man mit ihr über kaum noch irgendetwas und erst Recht nicht speziell darüber sprechen konnte. Denn sie hatte sich ja vorgenommen, sich nicht immer reinreden zu lassen, so wie es ihr auch alle empfohlen hatten (die Ironie darin war eh niemand aufgegangen und soll hier auch nicht Thema sein).

Und so sehr G. nach außen immer noch die gemeinsamen Werte vertrat, so sehr sie für Minderheiten und gegen Bullies, für Gleichberechtigung, Offenheit, Toleranz und Empathie eintrat, so wenig verknüpfte sie Außen und Innen – und wenn man sie auf ihr Verhalten ansprach dann sagte sie sinngemäß: „Schau, ich bin doch feministische Pädagogin, ich bin vegane Yogalehrerin, ich trage Henna im Haar und Batik am Leib, ich gehe auf Demos gegen die Bonzen und für Flüchtlinge – ergo geht Deine Kritik ins Leere, denn ich kann gar kein schlechter Mensch sein.“

Noch schwieriger: G. verwechselte auch das was sie tat mit dem, wie sie war. Selbst wenn man gar nicht über ihren maßlosen Egoismus sprechen wollte sondern über irgendetwas vollkommen anderes was sie tat: Egal, ob es eine Nachfrage (von Kritik wollen wir erst gar nicht reden) zu etwas im Job, oder eine Frage an den von ihr favorisierten Yoga-Stil war: Sie fühlte sich an ihren immer alles steuernden Vater erinnert und schoss entsprechend heftig zurück. Denn sie! musste sich ja nichts mehr sagen lassen. Hatten ja alle gesagt.

Wieso erzähl ich das?
G. habe ich lange nicht mehr gesehen und vielleicht ist sie auch eigentlich ausgedacht.
Aber warum spreche ich über sie, was lernt uns das für heute?
Mich lernt das folgendes: Ich beobachte immer wieder G.s in meiner Umgebung und ich fürchte Dank der originalen G. verstehe ich, was ihnen geschehen ist.

Die eine G., die ist dick und deswegen immer gemobbt worden. Der andere G. trug schon als Kind eine Brille und wurde immer gehänselt. Die dritten G.s sind vielleicht einfach nur nicht normsexuell, norm-familiär, normschön, norm-erziehend, normdeutsch, norm-irgendwas und mussten oder müssen an dieser Front immer kämpfen. Ihr versteht schon.

Zum Glück gibt es seit ein paar Jahren das Internet und das ist immer gut dafür, wenn man andere finden möchte, denen es genau so geht wie einem selbst. Menschen, mit denen man sich austauschen kann, mit denen man zusammen eine Stimme haben kann; mit denen man den ewigen Kampf auch mal zusammen führen kann. Das ist richtig, richtig, richtig gut, versteht mich nicht falsch.

Nur schlechte G.s sind echte G.s
Aber die G.s die ich meine, die sind nur dann echte G.s, wenn sie nicht alle vergessen würden, wann denn der Tag Null war und wie weit der Weg ist, den sie seit da gemacht haben. Wie viele kleine Schritte für sich sie schon gemacht haben in den vielen Tagen seit Tag Null.
Und so benehmen sich viele G.s heute genau so wie die, vor denen sie damals Angst hatten. Egoistisch, rücksichtslos, laut und unangenehm, intolerant und engstirnig. Nur eben nicht „konservativ“ engstirnig, sondern „liberal“ oder „links“ engstirnig. Ja ja, das geht.

Spricht man sie aber z.B. darauf an, wenn man von ihnen mal schlecht behandelt wird oder aber übt man an dem was und wie sie es tun Kritik, dann rufen sie: Aber wir sind doch die Nerds, die Alternativen, die Unterbezahlten, die Alleinerziehenden, kurz: die Anderen, wir sind doch die Opfer! Wir sind doch die, die immer leiden mussten! Wir können doch gar nicht unfreundlich sein, wir können per Definition kein Hatespeech sprechen, unsere Tweets sind immer gut und richtig, unsere Taten immer strahlend gut. Und dabei ist es egal, ob man sie auf ihre neue Brille oder ihr StartUp, ihre Haarfarbe oder ihre Partei anspricht: Sie fühlen nicht die Frage oder Kritik von heute sondern den Angriff von damals und schießen entsprechend heftig zurück.

Meist – was die Sache noch unangenehmer macht – schießen alle ihre neuen Freunde gleich mit, für so was ist dieses Internet ja auch ganz gut geeignet.

Also nochmal: Was lernt uns das?
Mich, dass es klug ist, sich selbst nicht nur einmal im Leben, sondern immer wieder mal zu hinterfragen. Ist selten spaßig und tut manchmal richtig weh, aber meist lohnt’s.
Außerdem: Manche Diskussionen im Netz führe ich nicht mehr. Wenn ich merke, ich rede gerade nicht mit einem Menschen, sondern mit seinen Dämonen von früher, dann schweige ich still.

Und was Dir das lernt? Ach .com.

Kleine Anmerkung, weil ich verschiedentlich darauf angesprochen wurde: „Was lernt mich das“ ist schreckliches Deutsch, hier in der Gegend aber durchaus geläufig. Bitte verzeiht diesen kleinen Seitenhieb auf mein geliebtes (…) Sauerland.

Dieser Artikel wurde zuerst am 20.1.2017 veröffentlicht im jawl, meinem alten Blog. Das jawl ist geschlossen aber diesen Artikel wollte ich gern behalten und habe ihn deswegen in ein Archiv alter Artikel aufgenommen.

Danke fürs Teilhaben und Dabei-sein. Wenn Sie wollen:
Hier können Sie mir ’ne Mark in die virtuelle Kaffeekasse werfen,
Oder – wenn Ihnen Geld zu unpersönlich ist – hier ist meine Wishlist. Sie finden dort formschöne und Freude-spendende Geschenke für wenige oder auch sehr viele Euro.

Die Website setzt 1 notwendiges Cookie. Ich nutze Matomo, um zu sehen, welche Artikel Sie interessieren. Matomo ist lokal installiert es werden keine Cookies gesetzt, so dass Sie dort vollkommen anonym bleiben. Externe Dienste werden erst auf Ihre Anforderung genutzt.